Die Kunst des Erzählens
Wie können wir heute in unserer Welt der zu vielen Bilder und zu vielen Worte noch etwas erzählen, das andere berührt und das sie in sich behalten? Wie kann man von sich selbst, der eigenen Geschichte und wie von anderen erzählen – und mithin auch von der Liebe, allem Überschwang und allen Enttäuschungen –, ohne in eine verbrauchte Sprache zu fallen, wie sie uns täglich begegnet, ob in den Medien, der Politik oder privat? Wir wollen uns den Antworten auf diese Fragen nicht abstrakt nähern, sondern durch die gemeinsame Besprechung und Analyse kleiner Geschichten, die im Laufe der Woche entstehen: in der Begegnung mit neuen Menschen in einer bis in den Schlaf hinein machtvollen Landschaft.
Die Seminare am Gardasee, die seit 2003 in unserem Haus stattfinden, stellen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor drei Aufgaben: das genaue Erinnern, das genaue Beobachten und ein genaues, auf sich selbst zurückgreifendes, aber auch über sich selbst hinausreichendes gestaltetes Erzählen.
Die Arbeit erstreckt sich über fünfeinhalb Tage in einer kleinen Gruppe von maximal neun Personen vom frühen Vormittag bis in den späteren Abend. Selbst die Mittagspause verbringen die meisten schreibend, nachdenkend oder im Austausch mit anderen im Haus und Garten – und immer wieder geht es dabei, unter Anleitung eines so namhaften wie erfahrenen Schriftstellers (Bodo Kirchhoff) und einer seit vielen Jahren erprobten Lektorin (Ulrike Bauer), um die Verbindung von ungeordnet Persönlichem mit ordnendem Handwerk.
Wichtigste Voraussetzungen für unser Schreibseminar sind Passion und Neugier, das heißt, eine Leidenschaft für das Schreiben und eine Freude daran, und beides kann auch über etwas sehr Privates laufen; etwa einem Tagebuch oder einem Stück Familiengeschichte, der Trauer um einen nahen Angehörigen oder einer Erfahrung von Glück, die am Anfang oft sprachlos macht. Und nicht ganz unwichtig für die Frage, ob man in dem Seminar richtig aufgehoben wäre, ist auch die Lektüre des einen oder anderen Werks von Bodo Kirchhoff, wir nennen hier nur drei Titel, die in den letzten 40 Jahren erschienen sind: „Die mexikanische Novelle“; „Liebe in groben Zügen“; und „Dämmer und Aufruhr“ (alle in der Frankfurter Verlagsanstalt).
Unsere Erfahrung mit dem Schreibseminaren in den letzten 16 Jahren zeigt, dass schon innerhalb der ersten zwei Tage eine produktive Dynamik entsteht, die aus kleinsten Textanfängen Geschichten hervorbringt, ein Schwung, der alle Beteiligten und auch uns immer wieder überrascht, am meisten aber die Schreibenden selbst. Sie erfahren nicht nur, was in ihnen steckt, sie erfahren auch, wie man es sprachlich zur Geltung bringt, es gestaltet, ohne es zu verfälschen – sie erfahren den Unterschied zwischen Wirklichkeitstreue, wie sie für den Journalismus gilt, und Wahrhaftigkeit innerhalb einer erdachten Geschichte oder eines Stücks Autobiographie. Das sind unsere Lernziele bei der Arbeit.